Milliardengrab „Rail Baltica“
Das Finanzierungschaos um das EU-Schienen-Projekt im Baltikum ist ein Skandal, der keiner sein darf
Das Dachgerüst des angehenden neuen Rigaer Bahnhofs ist schon fertig: weit geschwungene Bögen aus Stahlgitter, die noch verglast werden und bereits vermitteln, wie imposant der Bau aussehen wird, in dem stromlinienförmige Hochgeschwindigkeitszüge halt machen, um dann mit bis zu 249 km/h weiter nach Tallinn oder Warschau zu rauschen. „Rail Baltica“ nennt sich dieses Zukunftsprojekt.
Zwei Fragen stehen jedoch im baltischen Raum – wann werden die ersten Passagiere einsteigen – sowie ob überhaupt.
Denn das Projekt Hochgeschwindigkeitstrasse, welche mit Fährverbindung von Warschau bis nach Helsinki führt, an dem vor allem Litauen, Lettland, Estland, aber auch Polen und Finnland beteiligt sind, scheint kurz vor dem Aus zu stehen.
„Dieses Projekt driftet wie ein Schiff ohne Kapitän“, meint ein Mitglied der lettischen Opposition.
Es fehlt an Geld und an Kontrolle. Die EU beteiligt sich mit 85 Prozent an den Kosten, allerdings wurden jene 2017 auf knapp sechs Milliarden Euro kalkuliert.
Im Juni diesen Jahres kam eine Analyse der Rechnungshöfe der drei baltischen Staaten auf stolze 24 Milliarden EU. Die EU-Kommission hat bislang noch kein grünes Licht gegeben, hiervon die besagten 85 Prozent zu tragen.
Denn bei den Berechnungen vor sieben Jahren war nur von der Haupttrasse die Rede, deren Bau im Herbst theoretisch beginnen soll, nicht jedoch von den Nebenverbindungen und den Bahnhöfen.
Seit Juli wirkt in Lettland eine parlamentarische Untersuchungskommission, welche das Ausmaß der Verfehlungen zumindest im eigenen Land aufklären will.
„Das ist ein Fall von kollektiver Verantwortungslosigkeit. Es gibt keine einzelne Person, welche individuell verantwortlich ist.“ so Andris Kulbergs, der Leiter des Ausschusses, der vor allem auf das lettische Transportministerium abzielt. Die Beteiligten in dem Ministerium hätten einfach ihre Vorschläge durchgesetzt, ohne an die Kosten zu denken. https://bnn-news.com/bnn-interview-kulbergs-how-conflicts-incompetence-and-civil-service-have-brought-rail-baltica-to-the-brink-of-collapse-259674
Zudem machte der grün-konservative Politiker deutlich, dass die baltischen Regierungspolitiker die Öffentlichkeit getäuscht hätten, die EU würde das gesamte Projekt mitfinanzieren.
Auch der vormalige lettische Verkehrsminister Talis Linkaists soll 2022 ein Report seines Ministeriums über die wachsenden Kosten unter Verschluss gehalten haben, so dass das Parlament in Riga nicht informiert wurde. https://bnn-news.com/latvian-ministry-of-transport-accuses-ex-minister-of-hiding-rail-balticas-growing-costs-258161
Der parlamentarische Ausschuss will nun diesen und den amtierenden Verkehrsminister zum Verhör bitten, in den lettischen Medien ist von „politischen Konsequenzen“ die Rede.
Doch welche Konsequenzen werden in Brüssel gezogen?
Die EU Kommission hat noch kein offizielles Statement zu den Verfehlungen gegeben. Auf eine Anfrage des Autors dieser Zeilen wurde aus Brüssel darauf verwiesen, dass „Rail Baltica“ „für weitere Finanzierungen neue Anträge stellen kann.“ Auf die Verkalkulierungen wurde jedoch nicht eingegangen.
Dies fordert die „Union der Grünen und Bauern“, ein Koalitionspartner der lettischen Regierung von Premierministerin Evika Silna - Brüssel sollte eine Finanzierungszusicherung zu machen, sonst werde der Weiterbau boykottiert.
Doch darf das Prestigeprojekt der EU überhaupt noch scheitern? Oder ist es wie manche Bank „too big fail“?
Die Idee einer interbaltischen Zugverbindung hat zumindest eine lange Geschichte, sie entstand schon in den frühen Neunziger Jahren, nach dem Zerfall des Kommunismus. Denn die Sowjetunion hatte eine andere Spurbreite als das im Ostblock assoziierte Polen. Zudem war man im Kreml daran interessiert, die damaligen baltischen Sowjetrepubliken eng anzubinden, somit standen Verbindungen nach Minsk, Leningrad und Moskau im Vordergrund.
Doch die Umsetzung der geplant 870 Kilometer langen Strecke wurde lange verzögert, beispielsweise, da Litauen lange nicht hinnehmen wollte, dass die Trasse nicht über ihre Hauptstadt Vilnius laufen wird, hinzu kam die Finanzkrise 2008, die ernsthafte Planung begann somit erst ab 2010, das Gemeinschaftsunternehmen „RB Rail AS", 2014 gegründet, sollte nun Koordination in die Geschichte bringen.
Doch es gab permanent Auseinandersetzungen um Planung, Finanzen und Politik, auch wehren sich bis jetzt viele Landeigentümer gegen die notwendige Enteignung für den Schienenbau.
Die Lettin Baiba Rubesa trat 2018 als Vorsitzende des Unternehmens zurück, nicht ohne die nationalen Egoismen zu kritisieren.
Die russische Invasion in der Ukraine schien erstmals die Streitereien zu dämpfen. Schließlich hat die geplante Trasse auch eine militärische Bedeutung – auf der zweigleisigen Strecke können auch Panzer und Geschütze durch die NATO-Länder rasch bewegt werden, sollte sich der russische Nachbar zu einem Angriff entscheiden. Die baltischen Länder sind aufgrund ihres Engagement für die Ukraine und ihrer restriktive Sprachenpolitik gegen die russische Minderheiten Ziel vieler verbaler Attacken aber auch von handfesten Provokationen des Kremls.
Die Kostenexplosion zeigt jedoch, dass die sozialistische Wirtschaftsführung auch in den drei EU-Staaten noch verbreitet ist.
Vollkommen unklar ist weiterhin, wie die ultrafuturistischen Bahnhöfe, in Tallinn wurde kürzlich mit den Bauarbeiten begonnen, und weitere Projekte zu finanzieren sind. Auch die Deutsche Bahn ist hier engagiert, sie leitet zusammen mit dem französischen Konzern Egis den Bau des Rigaer Bahnhofs und der Eisenbahnbrücke über die Daugav, den Fluss in Riga. Als Reaktion auf die Anfrage des Autors wies die Bundesbahn an die Pressesprecherin von „RB Rail AS", welche nicht reagierte.
Die Kosten für den Rigaer Bahnhof wie den Flughafenbahnhof wurden im Juni auf eine Milliarde Euro geschätzt, erfahrungsgemäß werden sie weiter steigen.
Mittlerweile sind mehr private Investoren sowie Einsparmöglichkeiten von den jeweiligen Verkehrsministerien dringend gesucht, welche zur Zeit eine klärende Pressekonferenz hierzu vor sich herschieben.
Vor sich hergeschoben wird auch der Bau der Haupttrasse. Irgendwann im Herbst sollte es dann losgehen. Es würde nun eine „Fragmentisierung“ des Schienenbaus geben, jedes Land wolle sich auf wichtige Streckenabschnitte fokussieren.
Im Jahr 2030 würde dann der erste Zug von Warschau nach Helsinki rollen. Zumindest nach Plan.
Doch wie die Finanzierung bewerkstelligt werden soll, liegt weiterhin im Nebel der Planlosigkeit. Dies ist der eine Skandal. Als weiterer erscheint, dass jener in der deutschsprachigen Berichterstattung gar nicht vor kommt, als wäre das Baltikum und somit das Problem weit weg, oder als wäre Brüssel mit einem Füllhorn ausgerüstet.
Vielleicht gibt es ja Befürchtungen, dass Russland eine westliche Berichterstattung über die Planungsmisere aufgreifen und propagandistisch ausschlachten könnte? Bislang halten sich die russischen Medien hierzu noch zurück. https://rg.ru/2024/07/10/hutorskuiu-smekalku-hotiat-proiavit-v-litve-dlia-sooruzheniia-rail-baltic.html
Ein wirkliches Argument für das Aussitzen ist dies nicht und es gibt auch sonst keines in einer gelebten Demokratie.