Von einer „Lieferwagenrallye“ spricht mit Begeisterung Heidi Salmi, Einkaufschefin der S-Gruppe, einer Genossenschaft, der fünf finnische Supermarktketten angehören. https://s-ryhma.fi/
In Finnland steht das Mittsommer-Wochenende an, und damit das große Geschäft mit dem Alkohol. Ein Geschäft, das dieses Jahr besonders gut laufen wird.
Die Regale der Supermärkte der Genossenschaft und anderer Ketten wurden und werden vor dem trinklastigen Sonnenwende-Fest mit Starkbier und leichten Weinen aufgefüllt.
Denn Anfang Juni hat das Nationalparlament mit knapper Mehrheit ein Gesetz verabschiedet, welches die Kontrolle über den Alkoholverkauf liberalisiert: konnten bislang nur Getränke bis 5,5 Prozent in Lebensmittelläden verkauft werden, sind seit vergangener Woche acht Prozent erlaubt. Höherprozentiges muss weiterhin in den staatlich kontrollierten „Alko“-Läden erstanden werden, vor denen die Finninnen und Finnen oft wie im Sozialismus Schlange stehen, Dank Anwesenheitsreglementierung und kurzer Öffnungszeiten.
Doch nun kann das beliebte Starkbier bequem im Supermarkt erstanden werden.
„Finnland muss seine Alkoholpolitik mehr an die der anderen europäischen Länder anpassen“ so Regierungschef Petteri Orpo. Die Reform tue dies auf „eine verantwortungsvolle Art und Weise“. Die Partei Orpos, die „Nationale Sammlung“ ist einer eiserner Sparpolitik und wirtschaftsliberalem Denken verpflichtet. Weniger Staat in vieler Hinsicht. Die Liberalisierung kurz vor Mittsommer gilt darum als Geschenk an den Handel.
Weniger ein Geschenk an Gefährdete, so das „Finnische Institut für Gesundheit und Wohlfahrt“ (THL).
Die Sterblichkeit der „Hochrisikokonsumenten“ würde sich erhöhen, so die THL-Alkoholismus-Expertin Pia Mäkelä. https://www.iltalehti.fi/elintavat/a/e5095cb2-f95d-4638-a59a-1585e66b1a38
Rein statistisch geht der Alkoholverbrauch in Finnland zwar zurück. Lag der jährliche Konsum von reinem Alkohol pro Bewohner im Jahr 2010 noch bei zehn Litern, so ist er 2022 auf 7,6 Liter gesunken - unter dem EU-Durchschnitt. https://thl.fi/en/statistics-and-data/statistics-by-topic/alcohol-drugs-and-addiction/finnish-drinking-habits
Allerdings ist das Trinkverhalten anders als im Süden Europas. „Alkohol ist in Finnland ein soziales Schmiermittel“ so Mäkelä, sprich, man trinkt um seine soziale Scheu zu überwinden, und dies vor allem am Wochenende und dabei oft exzessiv.
Die studierte Soziologin weist zudem darauf hin, dass durch Gesetzesveränderungen die Finnen kein italienisches Trinkverhalten (regelmäßig Alkohol, aber in Maßen) übernehmen würden.
Allgemein seien die langen Winternächte und das früher harte karge Leben ein Grund für die skandinavischen Neigung zum Alkohol-Missbrauch.
Auch weist das Institut darauf hin, dass bereits die Reform von 2018, welche den Alkoholausschank in Restaurants liberalisierte und die Prozenthürden in Lebensmittelläden von 4,7 auf 5.5 erhöht hatte, zu mehr Alkoholtoten geführt habe.
Hinzu kam der Einfluss der Pandemie und den strengen Lockdowns, wodurch der seltsame finnische Brauch „Kalsarikännit“, was in etwa bedeutet – „in der Unterhose alleine zu Hause sitzen und sich volllaufen lassen“, mehr Zuspruch erfuhr.
Eine Verhaltensweise, die eher den Männern zugeschrieben wird. So konsumieren nur noch 22 Prozent Finninnen mehr als wöchentlich Alkohol, während es bei Männern noch 48 Prozent sind. Und um die jungen Frauen zu schützen, hat der Fürsorgestaat, welcher Feminismus als Staatsdoktrin verankert hat, bei der EU-Kommission durchgesetzt, dass die “Acht Prozent Regel“ nicht für Longdrinks gilt. Denn jene werden von jungen Finninnen bevorzugt, während junge männliche Finnen mehr auf Starkbier stehen. In Brüssel akzeptierte man diese Argumentationslinie. Ob hier nun eine patriarchal beschützende oder eine progressive Politik am Werk ist, soll offen bleiben.
Das Mittsommerfest gilt jedenfalls als „Test“ für die Auswirkungen der Gesetzeslage. Jedes Jahr ertrinken in Finnland Alkoholisierte, da der längste Tag traditionell an einem der vielen tausend Seen gefeiert wird. Man zündet große Feuer an, grillt, und trinkt, einige gehen danach ins Wasser. Insgesamt ertrinken in Finnland drei mal soviel Menschen pro Kopf als im benachbarten Schweden. https://www.hbl.fi/artikel/for-varje-drunknad-svensk-drunknar-tre-finlandare/
Dort wird die aktuelle Entwicklung in Finnland genau verfolgt. Auch in Stockholm will sich die bürgerliche Regierung an die anderen EU-Staaten mehr anpassen.
So sollen die Schwedinnen und Schweden ab 2025 alkoholische Getränke direkt beim Hersteller bestellen können – im begrenzten Umfang, über den sich die Koalitionäre der bürgerlichen Regierung gerade noch streiten. Das System mit den Monopol-Läden will die Führung in Stockholm beibehalten. Doch die sehen Kritiker in der schwedischen wie finnischen Opposition nun gefährdet, und somit die Kontrolle über den Alkoholkonsum der Bevölkerung. Die Monopol-Läden warnen schließlich vor den Folgen des Alkoholkonsums, eine Art Anti-Marketing. Im kommenden Jahr sollen in Finnland Alkoholika bis 15 Prozent in den Lebensmittelgeschäften erhältlich sein.
Die staatliche Kontrolle war in Finnland einst weitaus strenger. Bis zum Jahr 1970 war der Stoff nur via „Weinkarte“, eine Art Lebensmittelkarte zugänglich und Gemeinden konnten in den Achtzigern per Beschluss den Verkauf ganz untersagen. Von 1919 bis 1932 war Alkohol in Finnland via Prohibition ganz verboten.
Es bleibt offen, ob die Anpassen an die anderen EU-Staaten in Finnland funktioniert. An italienische Verhältnisse lassen sich die langen skandinavischen Winternächte wohl kaum angleichen.